Begegnungen

Déja vu – ein Jahr später

Neulich schickte mir mein Vater einen Link. Er habe sich lange mit seiner Schwester unterhalten. Sie seien beide entsetzt, dass Bill Gates die Erde durch Impfungen gegen das Coronavirus entvölkern wolle. Angefügt ein Artikel (oh, ich sehe gerade, er wurde mittlerweile auf der „Nachrichtenseite“ gelöscht), Überschrift in Großbuchstaben, dekoriert mit zig Ausrufezeichen – vortreffliche journalistische Qualitätsware also… Ich quälte mich durch die ersten Zeilen. Bill Gates habe in seinem TED-Talk 2010 schon verkündet, er wolle die Zahl der Menschen auf der Welt dezimieren. Uff. 

„Ganz liebe Grüße auch von G. und Oma“, schrieb mein Vater weiter. 

Ein Blick in das besagte Video zeigte schnell, Bill Gates sprach darüber, wie die Klimakatastrophe abgewendet werden könne, darüber, welche desaströsen Folgen unser Lebensstil auf die Zukunft des Planeten und der Menschheit hätte. Diese Verschwurbelungskünstler, die sich selbst als „Journalisten“ bezeichnen, drehen ihm das Wort im Munde um, publizieren diesen Müll, stacheln ganze Bevölkerungsgruppen mit ihren plumpen Lügen an! Und wer fällt drauf rein? Mein Vater?! 

Diese Debatte hatten wir beide im Frühjahr 2020 schon einmal. Da schickte mir mein Vater ähnliche Links. Ich antwortete ihm per Mail, nahm jedes Argument dezidiert auseinander, fügte seriöse Quellen bei, kam zu komplett anderen Schlussfolgerungen. Seine Antwort kam zügig. Er zeigte sich beeindruckt, dass ich mir so viel Mühe gemacht habe, mein Philosophiestudium sei nicht umsonst gewesen. Beim Lesen merkte ich, wie sehr er beim Schreiben damit gerungen haben musste, seine Sicht auf die Dinge (Querdenker) mit meinen Befindlichkeiten (Schutz des Lebens meiner schwerst mehrfach behinderten Tochter) in Einklang zu bringen. Die Liebe zu mir und meiner kleinen Familie troff aus allen seiner Zeilen. Die Wahrheit stehe – wie bei allem – irgendwo dazwischen, schreibt er. Dennoch kamen wir inhaltlich nicht überein. 

Also Déja vu – ein Jahr später: Als mein Wut über seine aktuelle Nachricht etwas abgeflaut war (ein paar Tage später), atmete ich tief durch und antwortete ihm in einer Sprachnachricht. So ruhig und sachlich, wie ich konnte. Ich schickte ihm das Originalvideo und erklärte kurz die Hauptaussage, erläuterte das mit-Absicht-falsch-verstandene-Zitat, und erbat mir, dass er endlich anfangen solle, kritisch zu hinterfragen, wenn seine Schwester ihm wieder heiße Links schickt und mir so eine Scheiße nicht mehr schicken solle. 

Seine Antwort klang reumütig. Er habe das Original TED Video von Bill Gates nun gesehen. „Sehr interessant“ sagte er. Er wolle zukünftig kritischer sein, er sei dankbar für meine Schelte. 

Meine Wut verflog. Ich musste lachen. Doch das Lachen blieb mir im Halse stecken. 

Seit dem Corona die Medien beherrscht, hat sich die Beziehung meines Vaters und mir verändert. Mir fehlt seine Schulter, an die ich mich immer lehnen konnte. 

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