Von unserer Wohnung im vierten Stock haben wir einen herrlichen Blick auf den Hasselbachplatz. Jeden Abend strahlt uns das rote „S“ an. Der Platz, ehemals Kneipen- und Flaniermittelpunkt, war immer wieder verschrien als laut, Brennpunkt der Stadt, wilder Treff aller Kulturen. Als wir 2015 hierherzogen, war dies auch unser erster Eindruck. Ich war Jerzy unendlich dankbar, dass er die vierte der zweiten Etage vorgezogen hatte. Manchmal war es vor unserer Haustür so voll, dass ich mich zum Eingang durch Menschenansammlungen drängeln musste und von hungrigen Blicken ausgezogen fühlte. Inzwischen bekommt uns das Leben hier, der Platz ist uns vertraut geworden, wir schätzen die nahen Wege überall hin, der Sommertrubel scheint weniger laut und „Tütchenverkäufer“ haben wir schon lange nicht mehr gesehen.
Heute Abend ist unser „Hassel“ leergefegt, wie ausgestorben. Als hätten sich die paar Autos, die um den Kreisverkehr fahren, verirrt und als wäre ihnen das peinlich. Die Straßenbahn kriecht stöhnend um die Kurve. Die Leute darin kommen alle zu spät nach Hause, denke ich. Ein Polizeitransporter verstärkt die dystopische Stimmung. Ich lege mich ins Bett. Vom Schlaf weit entfernt. Die Gedanken kreisen, nein, sie splittern.
Einer verhakt sich in Jerzys morgen bevorstehenden virtuellen Marathonlauf. 42,195 Kilometer ganz allein und wiederum auch nicht, teilt er doch sein Ergebnis auf einer Plattform im Netz. Merkwürdig, woran man sich in dieser virusla(e)stigen Zeit gewöhnt. Mir fehlt das Warten an der Strecke oder im Ziel. Mir fehlt, in all die glücklichen Gesichter derer zu schauen, die es bis ins Ziel geschafft haben. Kann das die Umarmung an der Wohnungstür ersetzen? Ich zweifle.