Heute früh bekam ich eine SMS von meiner guten Freundin. Ich schreibe „gute Freundin“, denn sie ist nicht nur eine Person, die ich sehr schätze und die mir nahe steht, sondern ist im im reinen Wortsinn ein gute Freundin. Eine Bilderbuchfreundin, wie aus Astrid Lindgrens Feder entsprungen, sie schickt mir Briefe und Postkarten, fügt lustige Tattoos für die Kinder bei, stellt mir etwas zu Essen aufs Fensterbrett (weil sie weiß, wenn es mir nicht gut geht und sie auch weiß, dass ich dann meine Ruhe brauche), schenkt MIR zum Geburtstag meiner Tochter ein Buch, feiert die schönsten Geburtstagsfeiern, bei denen sie all ihre Freunde verwöhnen lässt.
Halt stopp – ich verwende die falsche Zeitform.
Seit dem die Eindämmungsmaßnahmen gegen das Coronavirus unseren Alltag bestimmen, wurde es zunehmend stiller um meine Freundin. Der Alltag als Mutter, die Anforderungen als Arbeitnehmerin, die Einschränkungen und Entbehrungen, die zunehmenden Konflikte erschöpfen sie so sehr, dass ihre Stimme immer leiser wird.
Jedenfalls schickte mir meine gute Freundin heute eine kurze Nachricht. Fünf schlanke Absätze, aus denen die pure Verzweiflung spricht.
Ihr Kind hat eine schwere angeborene Krankheit, coronadeutsch heißt das heutzutage „Risikogruppe“. Es musste eine schwere Operation durchstehen, niemand wusste, ob es diese überleben würde. Und niemand weiß, was für Langzeitfolgen, diese OP haben wird. Niemand weiß, wie alt dieses Kind werden kann. Man sieht es dem Kind nicht an, denn es hat sich erstaunlich gut erholt, ist fröhlich, stark, witzig und klug. Aber seine Eltern kennen die Fragilität seines Lebens. Sie spüren jeden Tag, dass dieses Virus allem ein Ende machen könnte.
Diese Fragilität ist leider nur einem Bruchteil unserer Gesellschaft bewusst. So auch im unmittelbaren Umfeld des Kindes. Um endlich wieder effektiv arbeiten zu können, um nicht dem Dauerstress zu erliegen, um wieder frei atmen zu können, um dem Kind das Kindsein ermöglichen zu können, möchte meine Freundin ihr Kind wieder in den Kindergarten schicken. Dort weigern sich jedoch 90% der Eltern, ihre Kinder testen zu lassen. Ein kleines Stäbchen in die Nase, ein paar Popel rausfischen, zur Belohnung ein Gummibärchen – das einfachste der Welt. 90%! Die sehen es einfach nicht ein. Es ist ihnen egal. Regelmäßig mit Stäbchen in der Nase zu popeln ist besser auszuhalten, als mitschuldig zu sein, ein kleines Kind seines Lebens zu berauben?
Ich kriege Magenkrämpfe und schwitzige Hände, wenn ich darüber nachdenke. Vorhin beim Kaufland-Einkauf dröhnte es durch die dortige Ton-Anlage „Masken blablabla, Abstand blablabla… so kommen wir alle gemeinsam durch diese schwere Zeit“. Oder so ähnlich. Am Arsch!
Sie schreibt, „Ich müsste wütend sein, aber ich habe keine Kraft dazu“. Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Aber ich bin unendlich froh, dass sie ihre Gedanken noch mit mir teilt.